München, 31.Oktober 2024. Klein, mobil, desinfizierbar, aufladbar und damit universal einsetzbar sind die sechs neuen Radios für die beiden Intensivstationen der München Klinik Bogenhausen. Sie sind ein Teil des umfassenden Konzeptes im Kampf gegen das Krankheitsbild „Delir“ – ein Verwirrtheitszustand nach Operationen, der jede dritte Patient*in über 60 treffen kann. Unerkannt und unbehandelt drohen Demenz und der Verlust der Selbstständigkeit nach der Operation.
Delir vermeiden und erkennen: ein Anti-Delir-Management ist multimodular
Der multimodulare Anti-Delir-Plan der München Klinik Bogenhausen besteht aus medizinischen wie pflegerischen Maßnahmen. Unter dem Motto „minimieren, orientieren, aktivieren“ beginnen die Maßnahmen bereits vor einer Operation: Orientierungshilfen und -rituale sind fester Bestandteil des Konzeptes, so behalten Patient*innen bis zum OP-Saal ihre persönlichen Hilfsmittel wie Brillen, Gebiss oder Hörgeräte. Während und nach einer Operation werden Narkosemittel, Sedierung und Medikamentengabe minimiert und auf eine effektive Schmerzbehandlung geachtet. Das schont die Patient*innen und minimiert das Delir-Risiko. Der Tag-Nacht-Rhythmus wird künftig im Neubau der Klinik durch ein spezielles, heilungsförderndes Beleuchtungssystem simuliert. Übergroße Datumsuhren helfen den Patient*innen heute schon und geben Orientierung bereits im Aufwachraum nach der OP. Außerdem erhalten die Patient*innen bereits möglichst früh eine aktive physiotherapeutische Mobilisierung und ein standardisiertes Delir-Screening. Auch die Angehörigen werden möglichst ebenso früh miteingebunden, da auch „bekannte Gesichter“ bei der Orientierung helfen.
Förderverein München Klinik Bogenhausen - großer Dank für kleine Helfer
Großer Dank geht an den Förderverein des Klinikums Bogenhausen (FKMB). Dessen langjährigen Vorsitzenden, Christiane Hacker, liegt besonders die Spendensammlung gegen Delir am Herzen: „Der Förderverein hält es für absolut wichtig, Delir im Klinikum mit allen Mitteln zu bekämpfen“, erklärt sie mit Nachdruck. Die Mini-Radio-Geräte sind dank der Spende des Fördervereins nun ein Teil des etablierten, umfassenden Delir-Managements. Denn keine Orientierung bedeutet folglich Desorientierung: der Anfang von Chaos im Hirn.
„Jeder unserer Puzzlesteine, die wir als Gesamtkonzept systematisch einsetzen, hat zur Vorbeugung und Behandlung des Delirs große Bedeutung“, betont Professor Patrick Friederich, Chefarzt der Abteilung für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerzmedizin der München Klinik Bogenhausen.
Glücklicherweise findet die unterschätze „Volkskrankheit“ Delir mittlerweile immer mehr Beachtung in Medizin und Politik.
INFOBOX
Delir: warum Patient*innen auf Intensiv oder nach OP stark gefährdet sind
Gerade Patient*innen auf Intensivstationen sind komplexen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Und es betrifft Menschen jeden Alters, auch Kinder: Traumata, Operationen, Narkosen, Sedierung, Medikamente und andere Behandlungsverfahren setzen dem Körper und seiner physischen Homöostase extrem zu. Dazu kommt die psychische Belastung: Unsicherheit, Angst und Stress durch fremde Umgebung und Menschen führt zu Adrenalin- und Kortisol-Ausschüttung, dasselbe bewirken prä- oder postoperative Schmerzen. Permanente Störungen auch nachts und fehlendes Tageslicht bewirken einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus: Die Chronobiologie fährt Karussell und lässt den Melatonin- und Hirnstoffwechsel durcheinanderwirbeln und folglich auch die Gedanken, die Gefühle, die Orientierung. Und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, ist nichts mehr wie vorher: Abgetaucht ins Nirgendwo ohne Halt, ohne Wiedererkennen – das Delir übernimmt und gefährdet den Menschen, dessen Selbstbestimmung und dessen Würde.
Delir ist eine Psychose. Betrifft mich nicht? Weiß man nicht!
Der Begriff "Durchgangssyndrom", die vorübergehende Verwirrtheit, ist längst überholt. Ein Delir ist eine Psychose, mit Bewusstseins-, Aufmerksamkeits- und Denkstörungen, die bestehen bleiben kann oder wie bei 25% der Delir-Patienten dauerhaft kognitiven Schaden anrichtet, physisch, psychisch und kognitiv. Manchmal ist sie der erste Schritt in die Demenz und vorher selbständige Menschen werden zu Pflegefällen, unsagbares Leid auch für die Angehörigen. Ein Delir erhöht die Morbidität und die Sterblichkeitsrate. Zudem ist es häufig: jeder 3. Intensivpatient über 60 Jahre erleidet eine Delir-Psychose, mal kürzer, mal länger, mal dauerhaft. Aber es betrifft nicht nur Ältere, auch jüngere Menschen haben keinen Garantieschein.
Eine Delir-Psychose zu erkennen ist nicht trivial: Ein Drittel der Patient*innen sind unauffällig, haben ein so genanntes „hypoaktives Delir“. Ein leicht erkennbares „hyperaktives Delir“ mit delirantem, teils aggressiven und selbst gefährdendem Verhalten mit Ablehnung von Therapien oder Selbstentfernung wichtiger Zugänge findet sich nur bei 5%. Deshalb ist Chefarzt Professor Patrick Friederich das Screening auch so wichtig: „Um Delir-Anzeichen auf Station früh zu erkennen, nutzen wir Screening-Scores. Anhand von Fragen und Anweisungen prüfen wir mehrmals täglich den Bewusstseinszustand unserer Patient*innen.“
Musik und Delir: HighTech-Riese und Musik-Zwerg – ein intensives Team
Auf einer Intensivstation geht es um Leben oder Tod und High-Tech-Medizin spielt eine wesentliche Rolle – was sollen also Radios hier bewirken? Sie unterstützen auf eine subtile Art: die Musik, der Klang, der Rhythmus – sie therapieren über den Zugang zum Unterbewusstsein. Musik findet bei fast allen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes An-Klang, sie aktiviert oder entspannt, je nach Musikrichtung und Kompositionsform der Stücke. Zudem sind Lieblingsmelodien und -lieder fest in uns verankert, werden fast automatisch wiedererkannt und dienen dem Gehirn als Orientierungspunkt, als auditive Stütze gegen die Verwirrung im Kopf. Auch die positive Wirkung von bestimmter Musik auf Blutdruck, Kortisol-Ausschüttung und Schmerzempfinden – d.h. die medizinisch messbaren Auswirkungen der Trias Stress, Angst und Schmerz –, ist mittlerweile in vielen Studien nachgewiesen. Deshalb ist Musik ein wichtiges „Medikament“, das insbesondere Intensivpatient*innen zu Gute kommt, die allen drei Belastungsfaktoren ausgesetzt sind.
Bei Musik braucht es Feingespür.
Es muss gut überlegt werden, welche Parameter man beim Patienten beeinflussen möchte und wie, bzw. welche Musik individuell und im therapeutischen Gesamtkontext einzusetzen ist. „Natürlich beobachten wir unsere Intensivpatient*innen genau, achten auf Blutdruck, Puls und Augenbewegungen, können schnell reagieren und die Musik- oder Sprachsenderwahl darauf einstellen“, erklärt Intensiv-Pflegefachkraft Barbara Munro-Zorn. Sie ist Stationsleitung auf der 05. der München Klinik Bogenhausen und freut sich zusammen mit ihrem Team sehr über die neuen, kleinen Taktgeber für ihre schwer kranken Patient*innen: "Wir versuchen mit allem, was uns zur Verfügung steht, das beste Outcome für unsere Patient*innen zu kreieren, das ist mein Ziel“. Die Einbindung der Angehörigen, sozusagen als „Humanmedizin“ ist dabei von ganz zentraler Bedeutung.
Mozart, Bach & Klassik: beruhigende Musik zeigt Effekte
Je nach Art der Musik kommt es zu unterschiedlichen Reaktionen.
So galt der so genannte „Mozart-Effekt“ in der Fachwelt lange als umstritten. Mehrere Untersuchungen haben diesen Effekt jedoch bestätigt, so z.B. Studien an Intensiv-Patient*innen und Patient*innen nach Myokard-Infarkt. Es ließ sich beobachten, dass bestimmte klassische Stücke, z.B. von Mozart, J.S.Bach, Strauss jun. oder italienischen Komponisten eine besonders deutliche, blutdrucksenkende und beruhigende Wirkung hatten, während dieser Effekt bei Musik von z.B. ABBA nicht vorhanden war. Die Analyse der Musikstücke lässt vermuten, dass dies durch ein hohes Maß an periodisch wiederkehrenden Formen, gängigen Harmonieabfolgen und das Fehlen markanter Dissonanzen bedingt sein könnte. Umgekehrt kommt es bei Crescendos in der Komposition zu einem Blutdruckanstieg, generell scheint eine Slow-Tempo Musik (STM) beruhigende Effekte zu haben.
Musikhören nimmt Einfluss auf verschiedene zerebrale Prozesse, sie bindet die Aktivitäten beider Gehirn-Hemisphären ein und ist ein sehr komplexer Vorgang, erklären Musiktherapie-Forscher wie H.-J. Trappe oder G. Bernatzky. Sie stimuliert bestimmte Regionen des limbischen Systems und ruft über eine Veränderung der emotionalen Stimmungslage Entspannung hervor bei gleichzeitiger Down-Regulation der Angstaktivität. Bereits nach wenigen Minuten harmonisch klingender „schöner“ Musik war deutlich weniger des Stresshormon Kortisol im Blut zu finden, dafür höhere Werte für die Wohlfühlhormone Oxytocin und Serotonin. Die exakten neurophysiologischen Zusammenhänge der Musikeffekte sind noch längst nicht vollends geklärt.